Grüßt mich – ich bin die neue Welt! Ich bin keine Schule, keine Kirche, keine Idee, kein Glaube, ich bin die Wahrheit! Ich verteidige die Einbildungskraft in meinen Augen, Stiften, Pinseln: Die Natur – bin ich! Ihr habt sie geschmückt und aufgeputzt – ich ziehe sie aus! Ihr habt sie gesucht: Ich habe sie gefunden (…) Ich mache keine Bilder, ich nehme sie; die Schöpfung selbst ist für meine Bilder verantwortlich. Ihr wart Maler: Ehre für mich! Ich bin die Dunkelkammer!“1

Mit diesem satirischen Pamphlet geißeln die Kritiker und Literaten Edmond und Jules de Goncourt im Jahr 1855 Gustave Courbet und seinen neuen Realismus als „Kinder eines schrecklichen Materialismus“. Die Verwandlung der bloßen, unidealisierten Realität in ein Bild, das nun auch die frisch aufgekommene Daguerreotypie mittels einer Dunkelkammer zum Vorschein bringen lassen konnte, wird für die Kunst zunächst als unwürdig empfunden und empört abgeurteilt.

Selbst wenn Heiko Wommelsdorf dieser Gestus bohemienhafter Selbststilisirung eines Gustave Courbet im 19. Jahrhundert eher fremd ist, inhaltliche Überschneidungen in den künstlerischen Grundauffassungen von Realismus lassen sich trotz eines zeitlichen Abstandes von mehr als eineinhalb Jahrhunderten und der ganz unterschiedlichen technischen Mittel durchaus erkennen. „Ist es doch gerade die Beiläufigkeit jener Dinge, die immer da sind, von uns jedoch normalerweise ausgeblendet und daher nicht wahrgenommen werden“2, die auch den Hamburger Künstler interessiert und die ganz vergleichbar in vielen Werken Courbets zu finden ist: eine Wahrnehmungsschule für jene Realität abseits von Einbildungskraft und ausgeschmückter Natur, die oft übersehen bzw. – bei Heiko Wommelsdorf meist – ‚überhört’ wird.

Der Vorwurf, realistische Kunst begnüge sich ohne schöpferische Leistung mit der bloßen Nachbildung trivialer Beobachtungen, bildet seit über 150 Jahren den Nährboden grundlegender Skepsis gegenüber einer künstlerischen Haltung, die stärker auf die Hervorhebung des Vorhandenen durch gezielte Präsentation, als auf dessen Erfindung, Idealisierung oder Interpretation zielt.3 Mit der angeblichen Hässlichkeit der realistischen Kunst rügt man eigentlich die Banalität der Realität, die man nicht wahrnehmen will oder deren Schönheit man nicht erkennt. Angesichts des scharfzüngigen Eingangszitats der Brüder Goncourt befindet sich Heiko Wommelsdorf also in guter Tradition, wenn er z. B. unter Vermeidung „aufgeputzter“ Naturdarstellung die museumsüblichen und konservatorisch notwendigen Thermo-Hygrographen auf weiße Sockel hebt und damit lakonisch zu Skulpturen erklärt; oder wenn er ganz ähnlich mit dem alltäglich ächzenden Knarren von Bolendielen, dem eigentlich nebensächlichen Rauschen von Heizkörpern oder dem leise nervenden Surren eines Lüftungs-Ventilators verfährt. Es sind Alltagsgeräusche, die unter seinen Inszenierungen zu kunstwürdigen Klang-Ereignissen werden.

Immer auf den Ort seiner künstlerischen Präsentationen bezogen, begibt sich der Hamburger Künstler auf die Suche nach akustischen, manchmal auch atmosphärischen Entdeckungen, in denen er eine Schönheit ausmacht, die es ihm wert ist, dass auch wir sie entdecken. Wenn noch das Blätterrauschen eines Baumes im Wind, das Wommelsdorf nun in seiner Ausstellung im Kunstraum Tosterglope zum Thema erklärt, durchaus allgemeinverbindlich mit positiv besetzter Romantik verbunden ist, so lässt sich über die ‚Schönheit’ eines stetig hörbaren Wassertropfens, der aus einer undichten Wasserleitung rinnend, in darunter positionierten Eimern aufgefangen wird, aber durchaus streiten. Auch die vollständig leere Stellwand „Abluft“, mit der er in der Kunsthalle zu Kiel einen ganzen Ausstellungsraum besetzte, wirkt zunächst als unangemessener Störfaktor. Verwundert über diesen scheinbar funktionslosen Raumteiler vernimmt man irgendwann das subversiv surrende Geräusch aus dem oben rechts eingebauten Abluftgitter: Wommelsdorf Arbeit – raumbezogene Skulptur mit irritierendem Störfaktor oder konkrete Klangkunst? Es sind gerade langläufig als nicht beachtenswert empfundene oder geradezu als hässlich abgewertete Geräusche, die den Künstler faszinieren. Diese werden vom nebensächlichen Hintergrundrauschen zum exponierten Artefakt erhoben. Sie erhalten damit eine neue Wirkung, die sich aus ihrer inhaltlichen Differenz zwischen ursprünglicher Entstehung und letztendlicher Präsentation speist.

Und so wie man Courbets Selbstporträt mit Pfeife (1847), seine Darstellung eines gänzlich unprominenten ländlichen Begräbnisses in Ornans (1850) oder zweier durch die Arbeit verdreckter Steinklopfer (1849) als phantasielos und gar hässlich aburteilte, seinen ‚bloßen’ Realismus damit zum Schimpfwort degradierte, so könnte dieser Eklat heute auch die provozierende Beiläufigkeit der Arbeiten von Heiko Wommelsdorfs treffen. Diese weisen eben keine Spuren expressiver Anteilnahme, keine subjektive oder gar idealistische Überhöhung auf; Nicht einmal die klangliche Qualität der gefundenen Geräusche kann als ausschlaggebend für ihre Erhebung zum Kunstwerk angenommen werden: „Kein Schöpfer, Denker, Künstler mehr, der in seinem Herzen große Pläne schmiedet – Maurer nur noch! Kopist nur noch! Vernichtet ist Raffael…“, wie der französische Karikaturist Gill Bertall 1866 schreibt?4

Doch zugleich unternimmt Wommelsdorf jede notwendige Anstrengung, um die Inszenierung des Vorhandenen, des im Alltag aber nur beiläufig oder gar nicht Wahrgenommen, möglichst perfekt vorzunehmen. Seine Ton-Werke sind klanglich genau strukturierte Bestandsaufnahmen in der minimalistischen Musik-Tradition eines Steve Reich, Philipp Glass oder John Cage. In ihrer Reduziertheit entfalten sie eine ganz eigene Schönheit und sensibilisieren für klangliche Erlebnisse jenseits herkömmlicher Hörgewohnheiten. Sie bilden einerseits eine Art konkreter Musik, die unter weitestgehender Vermeidung externer Bedeutungsaufladung vor allem auf sich selbst verweisen. Andererseits erweisen sie sich angesichts ihres radikalen Realismus und unter Hinzufügung skulpturaler Mittel als durchaus orts- und zeitkritische, sogar phantasieanregende Erzählungen. Eine Decke, wie sie Wommelsdorf für seine Diplomarbeit an der HBK Braunschweig extra eingezogen und mit einem Wasserpumpen- und Schlauchsystem versehen hat – nur um Tropfen zu generieren und als Klangereignis in den wie notdürftig darunter aufgestellten Eimern auffangen zu können – ist eben nicht nur Instrumentarium für ein minimalistisches Konzert, sondern auch installativer Hinweis auf marode Bausubstanz oder auf den öffentlichen Kunstbetrieb, in den es symbolisch hineinregnet, dem gar das Geld für die Renovierung fehlt und der damit auch als Institution in Frage gestellt ist.

Also doch über das konkrete Klangereignis selbst hinausverweisende Gesellschaftsanalyse und Kritik? Realismus war immer schon mehr als neutrale Widergabe oder triviale Nachbildung, sondern bedeutete auch Aufzeigen von Missständen und Widersprüchen. Er ist ebenso Infragestellung eines Realitätsverständnisses, das sich all zu leicht auf beschönigende oder idealisierende Oberflächenwahrnehmung verengen lässt. Manchmal aber sind es schon die winzigen Ausschläge eines musealen Registriergerätes von Luftfeuchtigkeit und Lufttemperatur, die nicht nur als Indizien für veränderte Schallbedingungen im Raum, nicht nur für die kleinen wie großen Krisen unserer Zeit, sondern selbst als Beleg der eigenen Existenz dienen können – so behauptet es Wommelsdorf zumindest mit seiner für die Muthesius Preisträger-Ausstellung „Es lebe die Krise!“ im Marstall von Ahrensburg konzipierten Arbeit „Thermohygrographen“: „Die Ausstellung wird mit einem konkreten, physikalischen Beweis meiner Gegenwart in diesem Raum dokumentiert. Während fotografische oder textliche Dokumentationen manipuliert und befangen sein können, wird hier ein Abdruck erstellt, der mich überleben wird. Im Millimeterpapierarchiv des Museums kann ich in 40 Jahren die Stelle finden, in der meine Präsenz festgehalten ist: ‚Der kleine Zacken da, das war ich, ein Lüftungsorchester, ein an die Scheibe des Thermohygrographen hauchendes Kind, die Luftbefeuchter und die sich vier Mal öffnende Tür!’“5

Es ist diese Faszination an der bloßen Existenz alltäglicher Geschehnisse, die das Werk Wommelsdorfs auszeichnet. Selbst, wenn er – wie bei seiner Arbeit im Kieler Kunstraum B „Soundscape Kunstraum B“ geschehen – die rauschende Heizung und die summenden Lichtstrahler als später auf der Aufzeichnungsrolle unübersehbareren Hinweis seiner Anwesenheit eigenhändig hochregelt und schon damit in die bloße Dokumentation des sowieso Existierenden eingreift: Sein Werk ist vor allem Katalysator für ausgewählte Realitätsfragmente; quasi akustische „Dunkelkammer“ zur Wahrnehmung des – vielleicht nur scheinbar – Beiläufigen.


1 Edmond and Jules de Goncourt, La Peinture à l’exposition de 1855 (Paris, 1855), in: Études d’art (Librairie des
2 Heiko Wommelsdorf in einem Telefoninterview mit dem Autor, 1.6.2015
3 Vgl. Nadar, Ein realistischer Maler, in: Le journal pour rire, 17.1.1857, zit. nach: Realismus als Widerspruch. Die Wirklichkeit in Courbets Malerei, Hrsg. Von Klaus Herding, Frankfurt a. M. 1978, S. 19
4 Vgl. André Gill, 1866, Verse zu einer Zeichnung, die Courbet mit Pfeife, Wanderschuh und Holzpantine als „Flambeau du réalisme“ zeigt, zit. und ins Singular gesetzt nach: Realismus als Widerspruch. Die Wirklichkeit in Courbets Malerei, Hrsg. Von Klaus Herding, Frankfurt a. M. 1978, S. 19
5 Heiko Wommelsdorf, Konzepttext: Thermohygrographen, unveröffentlicht


Dr. Martin Henatsch (Büro Kunst & Öffentlichkeit)
In: Heiko Wommelsdorf – Vor Ort, Kunstraum Tosterglope e.V., BAR M, Berlin 2015