Hallo! … Meine Damen und Herren, es geht um Aufmerksamkeit!

Immer geht es um nur Aufmerksamkeit. Gleich ob Ihre internet-Spuren ausgewertet werden oder Zeitungen balkendick schreiende Überschriften drucken, gleich ob so jemand wie Putin unglaubliches Zeug schwatzt oder vernachlässigte Kindersoldaten im Namen einer unschönen Religion Leuten den Kopf abhacken, jene Kinder, denen vorher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Nun könnte ich zwar über die aus den Fugen geratene Weltpolitik psychologisieren, aber es geht ja um Aufmerksamkeit. Und ich muss mir ja auch Ihre Aufmerksamkeit erhalten. Und ich will ja darüber hinaus ihre Aufmerksamkeit auf jemand anders, auf Heiko Wommelsdorf richten. Wobei es ihm viel lieber ist, die Aufmerksamkeit richtet sich auf seine Arbeit. Und bei der geht es vorwiegend um Klang. Und um Raum. Aber das hängt sowieso direkt zusammen.

Das Jahresthema des Einstellungsraums ist SOUND. Es geht also diesmal nicht um Augenfutter oder gehirnschmalsfette Konzepte. Die Aufmerksamkeit soll zu dem geschärft werden, was wir um die Ohren haben. Nun ist der Hörsinn zwar der einzige, den wir nicht abschalten können, auch nicht, wenn Geräusche nerven. Aber der Hörsinn funktioniert nicht so ganz autonom, die anderen Sinne steuern ihn mit. Und vor allem steuert das Gehirn und das Vorwissen die Wahrnehmungsschwelle. Was den einen Lärm, ist den anderen „Neue Musik“. Während die einen aufwachen, wenn ein Blatt zu Boden fällt, sind es andere gewohnt, sich auch durch deutlichen Verkehrslärm nicht im Schlaf stören zu lassen.

„Wo Geräusch auf der Gassen ist, da gehe fürbaß“. Diese Empfehlung des Wandsbeker Dichters Matthias Claudius hat die Gruppe um den „Einstellungsraum“ zum Jahres-Motto gewählt. Allerdings ist das heutzutage gar nicht so einfach. Unser alltäglicher Lärm, unsere Gewöhnung daran, würde den alten Journalisten-Dichter vermutlich in den Wahnsinn treiben. Denn nicht nur unvermeidbare Lärmquellen sind allgegenwärtig, Geräusch wird oft gezielt eingesetzt: Kinder dominieren mit Geschrei, Halbwüchsige und Nie-Erwachsene mit wummernder Musik, Blaskapellen oder Dudelsäcken. Die subkulturelle Raum-Nahme erfolgt geradezu primär durch Sound. Es artikulieren sich unüberhörbar folkloristische Minderheiten vom Heimatlied bis zum Türkenbeat.

Stille hingegen wird inzwischen eher als ein irritierender Mangel, als eine positive Qualität wahrgenommen.

„Die Vergangenheit war eine einzige Stille. Im 19. Jahrhundert entstand mit der Erfindung der Maschinen das Geräusch. Heutzutage herrscht das Geräusch unumschränkt über die menschliche Empfindung.“ Das schreibt der italienische autodidaktische Klangkünstler Luigi Roussolo 1913 in „L’arte di Rumori“, einem der futuristischen Manifeste. Anders als man es heute heraushören würde, war dies damals uneingeschränkt positiv gemeint. Die Futuristen vergötterten geradezu die vielfach überlagerten Geräusche und Bildeindrücke, sie schätzten den Lärm, bis hin zum Kriegsgedonner in einem aus heutiger Sicht geradezu menschenverachtenden Ausmaß.

Jener Luigi Roussolo baute zu jener Zeit auch sogenannte „Intonarumori“ (etwa übersetzt: Geräuschtöner). Es waren seltsame Kästen und Trichter mit allerdings mechanischen Lärmquellen. Sie wurden zu ganzen Orchestern zusammengestellt. Und einige davon hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, was hier in diesen Raum geraten ist – auch wenn das hier eine ganz andere Herkunft hat.

Diese hier neu angebrachten Abluft-Nasen sind Industrie-übliche Teile von Lüftungsanlagen. Nun ist es zwar nicht immer möglich, hier im Einstellungsraum durch Öffnen der Tür zu lüften, dazu ist die Wandsbeker Chaussee zu laut, aber ein derartig aufwendiges Lüftungssystem wäre doch wohl des Guten zu viel. Wir dürfen das also als eine Skulptur betrachten. Als ein Ready-made, das uns die meist übersehenen Formen des Alltags präsentiert und ins Bewusstsein ruft.

Nun ist die Arbeit aber nicht still. Ihr Rauschen lässt erneut vermuten, es könne sich doch um eine zweckmäßige technische Anlage handeln. Allein, der Ort und dazu das bisher Gesagte, lassen erneut daran zweifeln.

Ich habe es schon eingangs verraten, Heiko Wommelsdorf arbeitet mit Klang-Installationen. Er verwendet immer wieder gerne Elemente von Lüftungsanlagen, denen er mittels Ventilatoren oder elektronischer Geräuschaufzeichnung Leben einhaucht, er verstärkt den Klang kaputter Leuchtstoffröhren, lässt alte Fernseher miteinander interagieren oder verfremdet und re-arangiert frühe elektronische und elektrische Geräte aus seinem großen, lange angesammelten Fundus. Aber auch analoge Tongeber werden eingesetzt: zersägte Schallplatten und mechanisch veränderte Spieluhrwalzen, rhythmische Wassertropfen oder knarzende lose Fußbodenbretter, überhaupt alle Arten von Eigengeräuschen der uns umgebenden Materialen – von gluckernden Heizungen bis zum noch nie bewusst wahrgenommenen Kratzen der Schreibfeder eines museumsüblichen Thermo-Hygrographen.

Die Installationen von Heiko Wommelsdorf bieten so etwas wie eine „Musik des Alltags“, sind durch ihren notwendigen Raumbezug zugleich Institutions-, ja Design- und Architekturkritik. Sie täuschen, unterwandern und schärfen die Aufmerksamkeit.

Nun sollte eine Eröffnungsrede nicht alles toterklären. Manche finden es besser, wenn der Redner eine Geschichte aus seinem Leben zum Besten gibt. Diese Kunden möchte ich nicht enttäuschen: Als ich das erste Mal im Keller des Jeu de Paume in den Pariser Tuillerien Monets Seerosen betrachtete – und ich war unglaublicherweise sogar fast ganz allein – erschien es mir, als ob ich in diesem Rausch von Blau und Grün, von Wasser und Licht, durch der Augen Wahrnehmung selbst in diesem Keller das Wasser und den Wind des Gartens von Giverny hören könnte. Überwältigt von der Kraft der Malerei dauerte es schon einige Augenblicke, bis ich realisierte, dass die vermeintliche Idiosynkrasie nur durch die Geräusche der Air-Condition erzeugt worden war.

Von Monet zur Air-Condition war es damals nur ein kleiner Schritt, hier aber ist es von der Abluft-Anlage zu Ihren Assoziationen ein großer Sprung: Haben Sie das eine gesehen, können Sie sich das andere dazu denken: Die Galerie-untypische Installation verweist auf die Fabrik, das daraus umgewandelte Veranstaltungszentrum oder das Museum.

Denn in einer Einzelpräsentation in einer – mit Verlaub nicht so besonders großen – Galerie sind seine Arbeiten nach Heiko Wommelsdorfs Meinung eigentlich zu deutlich präsent. Er liebt es, wenn seine Interventionen sich zuerst unbemerkt in den jeweiligen Ausstellungskontext einfügen, wenn die Lüftungsklappen, die flackernde und klickernde Neonröhre und die in einen Bau-Eimer abtropfende Decke für „Fehler“ des White Cubes gehalten werden: So nach dem Spruch: „Einen schönen Ausstellungsraum habt ihr hier, aber ihr hättet doch auch noch schnell den Wasserschaden reparieren können!“

Doch auch wenn die Präsentationsformen sich manchmal sehr zurücknehmen oder sogar fast anekdotisch scheinen, Klangkunst ist eine ernsthafte Angelegenheit, der allerdings leider oft zwischen Bildender Kunst und Musik nicht der angemessene Platz eingeräumt wird. Heiko Wommelsdorf ist Meisterschüler von Ulrich Eller, Professor für Klangskulptur und Klanginstallation an der HBK Braunschweig. Und in den Texten zu und über die Klangkunst geht es oft äußerst professoral zu. Dabei wird oft die ganze Musik-Theorie und das ganze Kunst-System bedacht und ganz allgemein die Ästhetik als Aisthesis, also als Wahrnehmungslehre abgehandelt – ich sagte schon, meine Damen und Herren, es geht um Wahrnehmung, es geht um Aufmerksamkeit.

Und in den Texten zu Heiko Wommelsdorf habe auch ich einen mir bisher unbekannten Begriff gefunden, den ich Ihnen nicht vorenthalten will: Par-eidolie. Dolles Ding das. Sowas wie der kleine Bruder der Verschwörungstheorie: Es ist das Wort für die Tendenz des Bewusstseins, auch in zufälligen Erscheinungen sinnfällige Gestalten und Beziehungen zu finden. Dass es dafür ein Wort gibt, freut natürlich einen solchen extremen Sammler und Arrangeur wie mich. Doch in der Klangkunst ist diese Tendenz zur „Zusammenschau“ dienlich, um aus vereinzelten, so üblicherweise nicht gewohnten Elementen ein vollständiges Bild bzw. Hörbild zu erzeugen. Und ursprünglich scheint mir dies eine Fähigkeit, unbekannte Dinge und Klänge zu ordnen – evolutionsgeschichtlich natürlich hinsichtlich ihrer potenziellen Gefährlichkeit für das Menschentier.

Nun, trotz ihrer relativen Größe werden die Lüftungs-Nasen von Heiko Wommelsdorf Sie nicht verschlucken und fressen.

Heiko Wommelsdorf schöpft für seine Arbeit aus zwei Bereichen: Von der Seite der Kunst arbeitet er mit unerwarteten Objekten, neugefundenen Kombinationen und ins Bewusstsein verstärkten Geräuschen. Im engeren Umgang mit seinen Sound-Quellen, in der Verwendung beispielweise von Loops und Phasenverschiebung, hat er von der amerikanischen Minimal-Musik gelernt, erinnert sei an Steve Reich, Terry Riley, Philip Glass, den viel zu unbekannten Colon Nancarrow und selbstverständlich John Cage.

Heiko Wommelsdorf zeigt uns den Ton in seiner Ambivalenz zwischen innerlicher Wahrnehmung und existentieller Präsenz, zwischen Stille, Signal und Lärm.

Hat man das verstanden, ist die Sache aber nicht erledigt. Dann beginnt die durch Heiko Wommelsdorf geschärfte Wahrnehmung, sich frei vagabundierend auf alles Mögliche zu erstrecken: Gehört dieses oder jenes Geräusch zur Inszenierung des Künstlers? Oder man kommt zu noch generelleren Gedanken wie: In welcher Klang-Inszenierung laufen wir im Alltag eigentlich herum? Und wie ist das eigentlich auszuhalten? Wenn Heiko Wommelsdorf mit Studenten arbeitet, gibt er ihnen oft als erstes einfach ein Mikrophon und lässt sie damit durch die Stadt gehen. Denn die Technik gibt die Geräusch-Umwelt ohne die Filter des Gehirns wieder… und manche entdecken, dass derartige Geräusch-Überlagerungen ziemlich erschreckend sind. Aber – man denke an die Wertung der Futuristen – auch faszinierend. Poetisch können die ganzen An- und Absauganlagen der Stadt als ein großes System verstanden werden, gar als die Organe eines quasi-lebendigen Meta-Wesens, als Atmen der Stadt.

„Wenn wir eine moderne Großstadt mit aufmerksameren Ohren als Augen durchqueren, dann werden wir das Glück haben, den Sog des Wassers, der Luft oder des Gases in den Metallröhren, das Brummen der Motoren, die zweifellos wie Tiere atmen und beben, das Klopfen der Ventile, das Auf und Ab der Kolben, das Kreischen der Sägewerke, die Sprünge der Straßenbahn auf den Schienen, das Knallen der Peitschen, und das Rauschen von Vorhängen und Fahnen zu unterscheiden. Wir haben Spaß daran, den Krach der Jalousien der Geschäfte, der zugeworfenen Türen, den Lärm und das Scharren der Menge, die verschiedenen Geräusche der Bahnhöfe, der Spinnereien, der Druckereien, der Elektrizitätswerke und der Untergrundbahnen im Geiste zu orchestrieren.“

Auch dies ist wieder aus dem eingangs erwähnten Manifest von Luigi Roussolo. Und auch bei ihm bleibt es nicht bei der bloßen Wahrnehmung. Er möchte all dies harmonisch aufeinander abstimmen und systematisiert im weiteren:

„Hier die 6 Geräuschfamilien des futuristischen Orchesters, die wir bald mechanisch verwirklichen werden:

1. Brummen, Donnern, Bersten, Prasseln, Plumpsen, Dröhnen.

2. Pfeifen, Zischen, Pusten.

3. Flüstern, Murmeln, Brummeln, Surren, Brodeln.

4. Knirschen, knacken, Knistern, Summen, Knattern, Reiben.

5. Geräusche, die durch Schlagen auf Metall, Holz, Leder, Steine, Terrakotta usw. entstehen.

6. Tier- und Menschenstimmen: Rufe, Schreie, Stöhnen, Gebrüll, Geheul, Gelächter, Röcheln und Schluchzen.“

Es war eine Idee auf dem damaligen Stand der Technik, diese Eindrücke MECHANISCH ausdrücken zu wollen. Realisieren kann man das inzwischen weit besser ELEKTRONISCH. Und die Entwicklung ging nach dem zweiten Weltkrieg nicht von Italien aus, sondern von der Minimal-Musik in den USA. Spätestens seit John Cage wissen wir, dass ALLES Musik ist, auch die Pause. Und auch die ausdrückliche Abwesenheit von Tönen heißt nicht, dass es nicht dennoch Klänge gibt – und seien es noch so minimale Umweltgeräusche.

Melodien verstopfen die Ohren. Arbeit mit Klang öffnet sie. Auch für die vermeintliche Stille.

„Wie sie sehen, sehen sie nichts“, war ein legendärer Satz einst bei der TV-Übertragung der Mondlandung.

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„Hast du gehört, wie ich nichts gesagt habe?“ fragte in seiner legendären Sketche mal Veit Valentin.

Klang ist alles. Auch das Rauschen des Verkehrs da draußen. Auch das Rauschen des Fernsehers nach Programm-Schluss… letzteres allerdings eine Erfahrung, die die jüngeren schlicht nicht mehr kennen. Und eben die AirCondition.

Aber ehe Ihnen meine Rede zu einem dahin strömenden Rauschen wird, möchte ich Sie nicht weiter daran hindern, sich an der Kunst und den angebotenen Getränken zu berauschen. Und freuen Sie sich, dass die Klanginstallationen – es sind zwei, eine erwartet Sie noch im Keller – erfahren dürfen. Denn diese sind immer einzigartig und grundsätzlich in keinem Medium zur Gänze reproduzierbar, auch im Video nur unvollkommen (Insbesondere die, die vor einer Woche schon die Dokumentationen von Heiko Wommelsdorf gesehen haben, werden genau wissen, was gemeint ist.).

Was mich angeht, ich schätze übrigens die Stille.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


Hajo Schiff (Kunstmittler)
Eröffnungsrede am 04.02.2015 in dem Einstellungsraum Hamburg