Geräusche, Klänge und Sounds des urbanen Raums stehen im Zentrum von Heiko Wommelsdorfs künstlerischer Arbeit für das diesjährige Blurred Edges Festival. Es sind die weniger auffälligen Sounds, die sein Interesse wecken, wie das pulsierende Klicken einer Ampelschaltung, das Surren der Lüftungs- und Klimaanlagen sowie zahlreiche weitere Geräuscherzeuger im öffentlichen Raum. Ausgestattet mit einem Dezibel-Messgerät hat sich Wommelsdorf auf eine akustische Erkundungsexpedition durch den Hamburger Stadtteil Bahrenfeld gemacht. Dabei spielt offensichtlich nicht nur die Frage, was gehört werden kann, sondern auch wie sich die Schallwellen im Raum ausbreiten eine zentrale Rolle seines künstlerischen Interesses. Jeder so gefundene Sound wird auf seine Dezibel-Höhe gemessen, sein Geräuscherzeuger mit einem entsprechenden Pegelwert etikettiert und dessen Standort in einer Karte vermerkt. Mit dieser Strategie nimmt Wommelsdorf eine akustische Vermessung urbaner Räume vor und entwirft so eine ganz andere, neue Stadtkarte, die nun den Besucher*innern zur Verfügung steht. Zugleich stellt Wommelsdorf damit die reguläre Funktionsweise von Karten in Frage, erweitert und thematisiert sie als Instrument einer künstlerischen Befragung und Aneignung urbanen Gebiets.

Seit es Karten gibt, steht mit ihnen und der damit verbundenen Tätigkeiten des Kartografierens die Sehnsucht des Menschen, unsere Welt zu ordnen und mittels Karten sich in ihr zu orientieren, sie zu vermessen und den eigenen Standort zu klären. Als vermeintlich objektives Ergebnis wissenschaftlicher Leistung sind Karten ein analoges und heute meist digitales Medium zur Darstellung eines räumlichen Gebietes der Erde oder anderer Himmelskörper. Die Tradition der Kartenherstellung ist nicht nur wissenschaftlich geprägt, sondern eng verbunden mit der Bildenden Kunst. Jahrhundertelang folgte die Arbeit des Kartografen ästhetisch-künstlerischen Prinzipien und lehnte sich an die Landschafts- und Vedutenmalerei an. Forschungs- und Entdeckungsreisen in ferne Länder und Kontinente wurden insbesondere im 18. Jahrhundert nicht selten von Künstler*innen begleitet, um das dort „Entdeckte“ durch visuelle Aufzeichnungen zu dokumentieren und um Karten zur Vermessung der neuen Welt herzustellen.

Doch auch wenn die Herstellung von Karten von Anbeginn eng mit künstlerischen Prinzipien verbunden war, so folgt sie doch anderen Paradigmen als ausschließlich künstlerischen. Vielmehr wurde spätestens in der Neuzeit mit dem Anspruch von Objektivität und Verwissenschaftlichung die Differenz zur Kunst betont. Die Karte bezeichnete nun ein Medium, das nach objektiv-neutralen Kriterien ein zuvor wissenschaftlich vermessenes Gebiet festhielt. Damit verschwand nicht nur eine künstlerische Dimension aus der Kartenherstellung, sondern Karten folgten einer speziellen Rhetorik. Unter dem Deckmantel einer vermeintlich wissenschaftlichen Objektivität transportieren Karten daher immer auch bestimmte Deutungen und Wertungen. So fasst eine Karte nicht einfach nur ein geografisches Gebiet, vielmehr reproduzieren und produzieren Karten spezifische Weltbilder und Machtansprüche, stehen im Zeichen nationalstaatlicher Herrschaftsapparate oder wirtschaftlicher Verwertungslogiken. Von daher sind mit Karten und dem Kartografieren immer auch spannungsreiche Verhältnisse zwischen Topografie und Topologie gefasst.

In der zeitgenössischen Kunst wird die Kartografie als Thema und Medium auf spielerische, ästhetische, künstlerische oder kritische Weise verhandelt und eröffnet dadurch ganz andere, neue Perspektiven des Verhältnisses zwischen Karte und Gebiet. Dabei kann das Potential von Karten und die damit verbundenen Verfahren der Annäherung, Erschließung sowie Auseinandersetzung von Räumen um andere Dimensionen, wie beispielsweise biografische Bezüge, gesellschaftliche oder machtkritische Prozesse erweitert werden. Eng damit verbunden sind künstlerische Strategien der ästhetischen Forschung, des Mapping und Kartografierens, die sich scheinbar typisch wissenschaftlicher Methoden wie dem Vermessen, Erkunden, Erforschen, Dokumentieren, Erschließen, Sammeln und Ordnen bedienen. Die künstlerische Verwendung dieser Methoden bewirkt spannende Öffnungen dieses Metiers, die Perspektiven eines unkonventionellen Wahrnehmens, Denkens und Handelns an bekannten wie unbekannten Orten aufzeigen und scheinbar Verborgenes sichtbar machen.

So nutzt Wommelsdorf dieses künstlerische Potential und bietet uns eine Stadtkarte ganz anderer Art an, mit der er auf die allgegenwärtigen, aber meist „überhörten“ akustischen Phänomene unserer Umgebung aufmerksam macht, die in der Bildenden Kunst zum künstlerischen Material werden. Und so wie er selbst zu Beginn dieser Arbeit durch das Stadtgebiet ging, so lädt er mit dieser Karte die Besucher*innen auf eine Entdeckungsreise ortsspezifischer Sounds und deren Strukturen ein. Fast automatisch verlangsamt sich dabei der Gang, man beginnt aufmerksam für das zu werden, was uns permanent in urbanen Räumen umgibt. Im Erforschen akustischer Phänomene kann sich die Resonanz des Hörens öffnen und die Vermessung von Orten auf hörbare Weise erfolgen. Was wir mit diesen neuen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erkenntnissen machen, bleibt uns freigestellt – sie bieten jedenfalls Potenzial für mehr.


Dr. Kerstin Hallmann
In: Schallleistungspegel Hamburg-Bahrenfeld, Heiko Wommelsdorf, Flyeralarm, Würzburg 2021