Viele Grafiken, ordentlich an eine Wand gehängt. Rotes und grünes Millimeterpapier mit blauen Linien. Konkret und minimal. Ein System von Zeichen und Symbolen. Die Diagramme rufen das Bedürfnis hervor, dass wir sie lesen und verstehen wollen. Wir wollen das gezeigte übersetzen, das vereinfachte in seinen komplexen Ursprung zurück führen um die verschlüsselte Information zu erfahren, um sie zu fassen und zu erleben. Wir wollen das Rätsel auflösen.

Die Grafiken erinnern, laut Heiko Wommelsdorf, an Notation und Partituren. Eine Notation ermöglicht einer einzelnen Person in der Musik komplexe Werke zu erschaffen. Ideen können in diesem System notiert werden, ohne sie selbst direkt auszuführen. Abstrahiert von den jeweiligen Erscheinungen der Musik mit ihren individuellen Eigenschaften wird eine Art Metasprache genutzt. Diese Metasprache ist für Komponisten und Musiker verständlich. Die mit Instrumenten gespielte Notation erreicht dann auch Menschen, die keine Kenntnis des Codes haben – falls sie zuhören. In den Werken von Heiko Wommelsdorf sind viele Referenzen – auch in die Kunstgeschichte – enthalten, als sei seine Arbeit ein Konzept zum verdeutlichen der Relevanz der Kunst, gerade dadurch, dass er aufgreift was das System um die Kunst herum erschafft um weiterhin unverändert zu bestehen. Das rauhe Klima Deutschlands erfordert ganzen Einsatz um die Kunst augenscheinlich zu erhalten.

Die Serie „Thermohygrograph-Grafiken“ besteht aus (derzeit) wievielen? einzelnen Blättern. Diese sind jeweils mit Ort und Zeitraum betitelt. Auf jeweils einem Blatt sind jeweils zwei Teile zu sehen. Zu erkennen in beiden Teilen sind Wochentage, Zahlen, außerdem in je einem Teil Grad Celsius- und Prozentangaben. Weiterhin ist jeweils eine Linie zu sehen, eine Art Aufzeichnung, die Messwerte markiert. Die Vereinfachung vermittelt eine scheinbare Überschaubarkeit der gegebenen Informationen. Die Form der Linie verweist auf eine technische Entstehung, die Form des Papiers verweist auf eine Trommel oder Rolle. Das entsprechende Gerät steht auch gleich vor den Grafiken. Es ist nicht direkt eine Bedeutung erkennbar. Die Wirklichkeit scheint abgebildet.

Die Grafiken zeigen die Temperatur und relative Luftfeuchtigkeit an bestimmten Ausstellungsorten in bestimmten Zeiten- eine klimabedingte Aufzeichnung. Je höher die Temperatur, desto mehr Wasserdampf nimmt die Luft auf, deswegen wird beides gemessen. Durch die Vielzahl an gezeigten Aufzeichnungen sind wir eingeladen zu vergleichen. Was auffällt, sind vor allem die Unregelmäßigkeiten, wodurch wurden diese hervorgerufen? Ging da eine Tür zum Museum auf und ein Besucher, naß aus der grauen Kälte Deutschlands, stapfte herein um direkt los zu meckern, ob das nun Kunst sei? Aus dieser Sicht können Besucher auch Schädlinge für die Kunst sein, da sie die wohl temperierte Umgebung stören. Oder hat da die Aufsicht zwei Fenster in der Galerie geöffnet? Um kurz und intensiv durchzulüften, wissend wie richtig gelüftet wird, entsprechend der Querlüftung? Oder einfach nur um dem einsamen Innenraum doch mal ein wenig Luft von der Welt da draussen zuzuführen? Das Außenklima hat permanenten Einfluss auf das Innenklima, auch bei Institutionen mit geschlossenen Türen. Je größer die Differenz zum Außenklima ist, desto schwieriger ist es, das Innenklima konstant zu halten. Optimale Werte sind perfekt für die präventive Konservierung. Toleranzbereiche sind gegeben, solange die formellen und informellen Spielregeln nicht gebrochen werden. Präzise, anschaulich und verständlich: Das Diagramm dokumentiert das Umgebungs-verhältnis, zur Kontrolle. Es muß ein gemäßigtes Klima herrschen. Relevante Parameter sind zwar schnell aufgezählt und größtenteils berechenbar: Das Klima eines Raumes wird von vielen Faktoren beeinflusst, vor allem von Temperatur und relativer Luftfeuchte, aber auch Licht, Gebäude und die Besucher spielen eine Rolle. Die Wechselwirkungen untereinander sind jedoch undurchsichtig. Und da ist sie dann doch erkennbar, eine Bedeutung – nicht konkret und nicht minimal, nicht überschaubar.

Eine Wertung der Situation scheint nur durch die stationäre Registrierung möglich; über einen kontinuierlichen, zeitlichen Verlauf entsteht eine scheinbar einheitliche Beobachtung. Auch deswegen überlassen wir die Messung des Klimas der technischen Sensorik. Unser Empfinden und unsere Zuschreibungen sind subjektiv. Jeder von uns hat eine andere Wohlfühltemperatur. Somit führen die Ermittlung brauchbarer Klimadaten und deren Interpretation zur Erkenntnis, ob sich die Kunst wohl fühlt. Kunstwerke haben spezifische Anforderungen an das Umgebungsklima. Künstler*innen auch. Das Zusammenwirken und Zusammenspiel unterschiedlicher Parameter in einem Beziehungsgeflecht sind relevant. Vor allem plötzliche Schwankungen – aber auch andauernde – sind meist herausfordernd.

Alle Beteiligten spielen eine Rolle und tragen zum Klima bei, auch diejenigen, die Kunst rezipieren. Kunst wirft einen auf sich selbst zurück und ermöglicht einem, über sich selbst hinaus zu kommen. Gut, dass es Künstler*innen gibt, die sich trotz des herrschenden Klima mit Wahrnehmung auseinandersetzen. Das Klima verbessern würde beispielsweise der Austausch über Wertschätzung künstlerischer Arbeit. Ausstellungs-honorare sind beispielsweise nach wie vor nicht selbstverständlich, Kunst wird nicht ernstgenommen aber enorm viel erwartet. Sich über Kunst austauschen hilft, hinschauen und zuhören.

Katharina Ritter (Kuratorin)
In: Thermohygrograph – Institutionelle Störungen, Heiko Wommelsdorf, LASERLINE Druckzentrum, Berlin 2018