Ich begrüße Sie ganz herzlich zur Eröffnung der Ausstellung “Zugezogen” von Heiko Wommelsdorf. Heute haben wir es mit einer ganz neuartigen Situation zu tun, die es in der Form hier noch nie gab. Normalerweise wird in diesem Schaufenster ja etwas gezeigt – heute ist der Raum verhüllt, mit Vorhängen verschlossen. Mit Vorhängen wird eigentlich etwas verborgen, was nicht gesehen werden soll. Hier, bei dieser Ausstellung, haben wir es jedoch mit einem ganz anderen Sachverhalt zu tun, denn es sind die Vorhänge selbst, die im Mittelpunkt stehen – um sie geht es.

Die Vorhänge sind in Bewegung – wir können erkennen, dass hinter den Vorhängen Ventilatoren stehen, die diese Bewegung erzeugen. Leider stehen wir hier draußen und können nicht in den Raum hineingehen – denn wenn wir es täten, würden wir nicht nur den Wind spüren, der aus den Ventilatoren kommt, sondern auch ein Geräusch hören, das durch das Drehen der Propeller verursacht wird. Dieses Geräusch, dieser Sound, den wir zwar nicht hören, von dem wir aber wissen dass er da ist, ist ein wichtiger Aspekt dieser Arbeit von Heiko Wommelsdorf. Mithilfe unserer Imagination können wir diesen Sound in unserem Kopf entstehen lassen, er ist also da. Aber selbst wenn das nicht so gut klappt, ist das auch nicht schlimm. Denn: Ein Prinzip, das sich durch seine Arbeit zieht, ist Klangerzeugung und deren Übertragung in Bewegung. Durch die Bewegung der Vorhänge wird der Klang sichtbar gemacht.

Wenn wir die Arbeit länger betrachten wird klar, dass sich die Vorhänge nach einem bestimmten Prinzip bewegen, dass ihre Bewegung einem festgelegten Rhythmus folgt. Heiko Wommelsdorf benutzt in seinen Arbeiten häufig das Prinzip des Loops, einer sich endlos wiederholenden Dauerschleife von Tonfolgen oder Rhythmen. Frühe Formen von Loop Musik hatten ihre Wurzeln in der zeitgenössischen ernsten Musik. John Cage und Colon Nancarrow verwendeten hierfür unter anderem Spieluhren und Pianolas, auch Karlheinz Stockhausen experimentierte mit diesem Prinzip. Phil Glass und andere Größen der minimal music benutzten diese Herangehensweise häufig in ihren Kompositionen.

Dieser Arbeit liegt eine Partitur zugrunde, die Sie aufgezeichnet auf einem Schild vor dem Schaufenster finden können. Ein loop hat jeweils eine Dauer von 4 Stunden, diese Stunden sind in Takte von jeweils siebeneinhalb Minuten eingeteilt. Es gibt Klangtakte und Pausentakte, die sich nach einem festgelegten Prinzip abwechseln, wobei der Beginn einer Abfolge im Vergleich zu der Vorhergehenden jeweils 8 Takte später beginnt, es ist also auch eine Art Sequenzverschiebung.

Die Übertragung dieses akustischen Prinzip des Loops ins Visuelle ermöglicht es uns, den Klang zu sehen. Interessant finde ich auch, dass Heiko Wommelsdorf ein gängiges Phänomen ins Gegenteil verkehrt. Normalerweise ist es ja so, z.B. im Film, dass es eine Handlung gibt, also ein Bewegtbild, das durch Musik, durch Klänge dramaturgisch unterstützt wird. Es gibt zunächst die Bewegung, sie steht im Vordergrund, und dazu werden dann die Klänge produziert. Wommelsdorf vollzieht hier eine radikale Umdeutung: Zunächst ist der Klang, der Sound, er ist der Ausgangspunkt, und die Bewegung hat die Aufgabe, den Sound zu unterstützen.

Heiko Wommelsdorf hat in seiner künstlerischen Arbeit unterschiedliche Methoden entwickelt, um Klang jenseits der akustischen Wahrnehmung erfahrbar zu machen.

In Kiel gibt es z.B. einen „Kunst-Container“, in dem künstlerische Arbeiten präsentiert werden. Den Holzboden dieses Containers hat er mit kleinen Lautsprechern versehen, die unmittelbar auf dem Boden aufliegen und diesen durch die Geräusche in Schwingungen versetzen, der Boden vibriert. Wenn man über den Boden geht, kann man die Kompositionen also fühlen, nicht nur hören. Auch hier transferiert er den Sound so, dass er jenseits der üblichen Wahrnehmung über das Ohr ganzheitlich erfahrbar wird.

In einer weiteren Arbeit hat sich schon einmal mit Vorhängen beschäftigt, aber auf eine ganz andere Weise als hier, in der Lessinghalle in Kiel, die auch einmal ein Schwimmbad war. Mit einem Mikrofon ist er die Vorhänge abgefahren und hat dann diese Geräusche über Lautsprecher, die zwischen den Vorhängen platziert waren, abgespielt. Er hat also den Sound dieser Stoffbahnen abgenommen, das Material selbst vertont und hörbar gemacht.

Seine künstlerischen Arbeitsweise hat, wie wir sehen, häufig einen forschenden Ansatz, ist von Neugier und Experimentierfreudigkeit geprägt. Die Kombination verschiedener Medien und die Transformation der Mittel hat er auch in dieser Arbeit hier im Kunstschaufenster sehr überzeugend realisiert.


Karin Kamolz (Kuratorin)
In: Heiko Wommelsdorf – Zugezogen, Hallenbad – Kultur am Schachtweg, Wolfsburg 2013