Das Schwierige ist nicht, die Dinge zu machen,

sondern Bedingungen zu schaffen,

unter denen man sie machen kann.

CONSTANTIN BRÂNCUSI (1876 – 1957)

Inmitten des 2012 fertiggestellten, innenstadtnahen neuen Wohnquartiers „Unterm Georgenberg“, genauer in der Peter-Rosegger-Straße in Reutlingen liegt das Atelier des Stipendiaten der HAP Grieshaber Stiftung. Das lang gestreckte, zweistöckige Gebäude mit seiner historischen Backsteinarchitektur setzt sich auffällig von der Umgebung ab – es ist das letzte Zeugnis einer großflächigen Kasernenanlage, die ursprünglich 1936 im Hitler-Deutschland erbaut worden war. Nach dem Krieg und bis 1992 war die „Hindenburgkaserne“ einer von zwei Standorten der französischen Armee in Reutlingen. Die Gebäude wurden nach der Jahrtausendwende abgerissen – bis auf das Haus, in dem sich unter anderem der Atelierraum mit einer Größe von rund 68 m2 befindet. Die inzwischen alle zwei Jahre vergebene Förderung beinhaltet für den Zeitraum von zehn Monaten, abgesehen von einer nahe gelegenen Wohnung, die Möglichkeit, diesen Arbeitsraum zu nutzen. Seitdem das Stipendium 1994 ins Leben gerufen wurde, waren unter den Stipendiatinnen und Stipendiaten Maler, Bildhauer, Installations- und Performancekünstler, die – immer inhaltlich ungebunden – das Raumangebot ganz unterschiedlich aufnahmen: Das reichte beispielsweise von der „Nicht-Nutzung“ über die Einrichtung als handwerkliche Werkstatt oder als Malatelier, bis hin zum alchemistisch anmutenden Versuchslabor oder zum Lagerraum für Ideen in Form von Material und Fundstücken.

Heiko Wommelsdorf arbeitet als Klangkünstler installativ und reagiert mit seinen Arbeiten immer auf die jeweiligen räumlichen Gegebenheiten der Ausstellungen. Architektur und Akustik dieser Innen- oder auch Außenräume werden zu einem wichtigen Bestandteil seiner künstlerischen Arbeiten, den Klanginstallationen, die er dementsprechend direkt vor Ort – mit einem vorausgegangenen theoretischen, rein gedanklich oder am Computer entwickelten Konzept – entwirft und umsetzt. Welche Rolle oder Funktion kann da ein Atelier für ihn einnehmen? Ist es eine Notwendigkeit für die Entwicklung seiner künstlerischen Fragen und Prozesse?

Das Atelier als Werkstatt, Wirkungsstätte des Künstlers ist traditionell mit Vorstellungen und Klischees verbunden, die es zu dem Raum stilisieren, in dem sich künstlerische Ideen materialisieren. Dies geschieht in Form der Werke selbst, kann aber auch die programmatische Inszenierung der Arbeiten1, theoretischer Programme oder einer künstlerischen Position2 oder des Künstlers selbst sein. Der „Mythos Atelier“ lebt trotz eines veränderten künstlerischen Selbstverständnisses, trotz einer anderen Sicht auf die Praxis künstlerischer Prozesse und trotz neuer Ausdrucksformen und Medien. Auch in der „Post-Studio-Ära“ ist das Künstleratelier immer noch ein symbolisch aufgeladenen Ort, eng verbunden mit Vorstellungen von einem Künstlertum, das hier im individuellen Rückzug seine Inspiration finden, ein kreatives Chaos leben oder Denken ordnen könne. Das Atelier ist ein zunächst privater Raum3, der mit der Person des Künstlers, wohingegen der Ausstellungsraum vorrangig mit dessen Werken verbunden wird. Am Ende eines Entstehungsprozesses werden die Werke in der Regel erst gezeigt, wenn sie das Atelier für die Präsentation in einem öffentlichen Raum verlassen. Öffnet der Kunstschaffende seine Räume zuvor, so kann der Atelierbesucher unvollendete Projekte als „work in progress“ sehen sowie abgeschlossene, „wartende“ Arbeiten, die aber nicht zwingend „ausstellungskonform“ präsentiert werden. Die Architektur und insbesondere die individuelle Ausgestaltung des jeweiligen Künstlerateliers bestimmen an dieser Stelle die Möglichkeiten.

Heiko Wommelsdorf entwickelt gleich zu Beginn seines Aufenthaltes in Reutlingen ein Konzept für die Nutzung des Ateliers: Er baut eine 3,3 Meter hohe und 6 Meter lange Wand so in den Raum ein, dass sie als weißgestrichene Präsentationssfläche fungieren kann, vor der andererseits genügend Platz für Installationen verbleibt. Im Raum vorhandene weiße Metallsäulen rahmen rechts und links den Blick auf die Wand. Bereits mit der handwerklichen Aufgabe des Wandbaus beginnt der künstlerische Prozess4, der auch die am Ende des Aufenthalts anstehende Ausstellung in den großzügigen, vormals industriell genutzten Räumen der Städtischen Galerie und die begleitende Publikation im Blick hat.

Der Künstler schafft sich das vorgeblich neutrale „Setting“ für die Präsentation von Arbeiten, die in dem Förderzeitraum entstehen. Die Rahmenbedingungen bleiben immer identisch – Raum, Wand, Säulen, sowie relativ gleich das Licht in einer Mischung aus Kunst- und natürlichem Licht von hoch gelegenen Fensterbändern rechts und links. Der Ablauf ist über Wochen und Monate ebenfalls immer der gleiche: Hängen, installieren der Arbeiten, fotografieren und filmen der fertigen Installation, schriftlich die Arbeit beschreiben und den Link für das Video auf der Plattform „vimeo“ vermerken, die Installation belassen für den Zeitraum von einem Tag oder einer Woche, abhängen, ausbessern der Wand und eine neue Arbeit installieren. Auch für die Filmaufnahmen setzt Wommelsdorf gleiche Bedingungen: Jede Einstellung dauert zwölf Sekunden und zu jeder Arbeit gibt es insgesamt sechs Einstellungen aus unterschiedlichen Perspektiven, in unterschiedlichen Einstellungsgrößen.

Diese definierte Form der Präsentation ordnet die äußeren Bedingungen der Kunst unter und erinnert an die seit den 1920er-Jahren übliche Ausstellungsidee des „White Cube“ (weißer Würfel). Die Ausstellungsarchitektur soll danach von klaren Formen und weißer Farbe bestimmt und somit frei von Interaktionen mit den Exponaten sein. Das Konzept wird seit den 1970er-Jahren wiederum diskutiert unter anderem mit dem Vorwurf5, dass die Kunst auf diese Weise den Bezug zum alltäglichen Leben verloren habe und der Betrachter nicht einbezogen sei. Zudem brachte die Entstehung von Installations- und Medienkunst verstärkt die Suche nach neuen Präsentationsformen6 mit sich, zu denen auch die Umwidmung von solchen Räumen gehört, die bereits ihre eigene Geschichte in sich tragen und auch architektonisch dominant sein dürfen. Durch diese Konzepte ist auch Heiko Wommelsdorf seit seinem Studium geprägt. Allerdings will er mit seinen Arbeiten nicht auf die Stärken, Schwächen oder Geschichten von Räumen verweisen, sondern den akustischen und architektonischen „Alltag“ des jeweiligen Raums in das Zentrum der Wahrnehmung rücken. Seine Arbeiten nehmen diese Alltagsphänomene auf und wirken trotz der spezifischen Raumbezüge zugleich auch auf einer rein ästhetischen Ebene, können so wiederum einen „neutralen“ Raum sozusagen neu beseelen oder füllen.

Im Reutlinger Atelier gelingt Wommelsdorf die Zusammenführung der beiden Ansätze: Einerseits schafft er sich „objektive“ Rahmenbedingungen für eine Dokumentation und auch selbstreflektierende Betrachtung, andererseits wirkt auch dieser Ort spezifisch auf den Künstler und seine Kunst ein. Genau diese Bedingungen (Wand, Raum vor der Wand, Säulen, Licht) sind es, die ihn beim Entwurf der Arbeiten für diese Wand und den vorgelagerten Raum leiten. „Ich fange oft erst im Ausstellungsraum an, praktisch an meiner Idee zu arbeiten. Es trainiert, wenn ich das Atelier wie einen Ausstellungsort begreife, um meine Ideen nicht nur am Computer oder im Kopf umzusetzen, sondern auch haptisch.“7 Die hier dokumentierten Arbeiten, eigens für diese Wand-Raum-Situation installiert, leiten sich zum Teil von bereits in anderen Zusammenhängen gezeigten Installationen her, die einer Revision unterzogen werden – mit dem Augenmerk auf ihr ästhetisches Erscheinungsbild. Andere Arbeiten komponiert der Künstler optisch und akustisch neu. Das „Setting“ bietet ihm dabei die Möglichkeiten, wie ein Forscher systematisch zu arbeiten und die bildnerische und klangliche Entfaltung seiner künstlerischen Idee zu erkunden.

Der weißen Wand kommt dabei zum einen die Aufgabe zu, als objektives Mittel zum Zweck, ohne ästhetischen Eigenwert, der Präsentation zu dienen. Andererseits erhält sie selbst in diesem Atelier durch den Wechsel der Arbeiten, die auf ihr präsentiert werden, ihre eigene Geschichte. Ein weiterer, bislang unerwähnter aber wesentlicher Aspekt: sie wird zum Resonanzkörper. Die akustische Qualität der Installationen Heiko Wommelsdorfs erlebt der Rezipient immer als Verbindung des Klanglichen mit dem Visuellen und Räumlichen. „Jeder Raum hat seine eigene Akustik, Atmosphäre, Geschichte, Beschaffenheit etc. die die dort installierten Arbeiten verändern. Die ‚Spieluhren’ habe ich schon oft ausstellen können. In einer Kirche hatten die Klänge nicht nur einen enormen Nachhall, sondern auch inhaltlich einen Bezug zum Ort. In einer kleinen Galerie mit Rigipswänden wurden die Uhren durch die Vibration der Wand sehr laut. Die Klänge bündelten sich in einer Ecke der Galerie und waren dort doppelt so laut zu hören wie direkt vor der Installation. An einem Weg in einem Park in Braunschweig positioniert, waren die Spieluhren Wegmarkierer. Jede Spieluhr, die am Weg aufgezogen wurde, zeigte den Weg auf, den man genommen hatte und musikalisierte ihn. In einem Häuschen am Gerhard-Hauptmann-Haus auf Hiddensee war die Arbeit aufgrund des Steinbodens derart laut, dass die hohen Töne kaum zu ertragen waren. In einer Galerie in Hannover war die Arbeit aufgrund der Beschaffenheit des Raumes und der Wände so leise, dass die Besucher so nah mit ihren Ohren an den Spieluhren waren, dass sich ihre Haare in den Uhren verfangen hatten. Das sind Beispiele einer Arbeit, die mich neugierig machen.“8 Die Wand im Atelier gibt den Spieluhren nunmehr einen weiteren Klang.

An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob und wie Klangkunst dokumentiert werden kann. Ihre raumfüllende, raumbildende Eigenschaft ist nicht wirklich „abbildbar“. Klangkunst ist immer sinnliche Raum- und Zeiterfahrung zugleich und ist auch verbunden mit Bewegung des Rezipienten im Raum, der die Klänge von unterschiedlichen Standorten aus unterschiedlich wahrnehmen kann. Dennoch findet Wommelsdorf für die Komponenten Klang und Installation mit den Medien Fotografie, Film, und Text und deren Zusammenspiel eine Form der Dokumentation. Entstanden ist ein Werkverzeichnis der Reutlinger Arbeiten. Das Foto im Katalog bietet einen Erfahrungs-Ausschnitt. Es spiegelt mehr den ersten Augenblick der Wahrnehmung, das schnelle Erfassen, dem Betrachten eines Bildes vergleichbar. Es konzentriert sich auf die ästhetische Komponente der Installation. Im Film kommt wesentlich die Verbindung der akustischen mit der visuellen Komponente zum Tragen. Der Künstler trifft an Stelle des Betrachters und Hörers mit der Wahl des Standortes und der Verweildauer die Entscheidungen über die Art und Dauer der Rezeption. Er wird im Film sogar zum Stellvertreter des interagierenden Rezipienten, der die Installation bedient.

Das Konzept der Atelier-Ausstellung mit festen räumlichen Rahmenbedingungen erhält durch manche der Reutlinger Arbeiten eine weitere Ebene. Heiko Wommelsdorf thematisiert den Ausstellungsraum – und damit auch das Ausstellen überhaupt. Er „scannt“ gewissermaßen den Raum auf seine Bestandteile hin, isoliert diese und setzt sie neu zusammen, gibt ihnen neue Aufgaben, Funktionen und Bedeutungen. So werden die Mittel der Inszenierung verdeutlicht, transformiert. In der Arbeit „Spot“ wird die leere Wand des „White Cube“ selbst zum Thema. Aber auch die inszenierende Beleuchtung, das künstliche Licht wird betont durch das unüberhörbare, penetrante Surren der Strahler. Das Präsentationsmittel „Sockel“ und seine Möglichkeiten, die Bedeutung von Gegenständen zu beeinflussen, werden in der gleichnamigen Arbeit befragt und verfremdet, indem diese in luftiger Höhe zum akustischen Resonanzträger werden. Wie stark die optische die akustische Wahrnehmung in unserem Alltag oft überlagert, zeigt die Arbeit „Thermohygrographen“ – Geräte, die als Bestandteil musealer Räume vom Besucher meist nur visuell erfasst werden. Die Objekte der Arbeiten „Lüftungsgitter“ und „Fallrohre“ erhalten in Zusammenhang dieser Analyse des Museumsraums auch eine neue Rolle. In der Arbeit „Situation“ führt Wommelsdorf einzelne Elemente vorheriger Installationen zusammen, bildet assoziativ einen Museumsraum, der unsere Aufmerksamkeit intensiver auf das Geräusch des Ventilators lenkt. Der Titel suggeriert zudem, diese Komposition sei so vorgefunden worden. Vom Ort, an dem Kunstwerke hergestellt werden, wird das Atelier zum Schauplatz für das Thema der Wahrnehmung von Kunst und deren Präsentation.

Der Atelierraum des Stipendiaten wird zum Ausstellungsraum auf Zeit – aber nicht von vornherein zum öffentlichen, denn nur der Zufall bringt Besucher herein. Wichtiger ist Heiko Wommelsdorf die Idee, die sonst ephemeren Klangkunst-Installationen zu dokumentieren. Aus seiner im Kopf oder im Computer vorhandenen „Ideenliste“ hat der Künstler Arbeiten realisiert und dokumentiert und sich damit die Möglichkeit verschafft, sie auf andere Räume hin erneut zu realisieren oder zu modifizieren – einen ersten Transfer einiger dieser Installationen zeigt die Ausstellung in den Räumen der Städtischen Galerie Reutlingen.


Martina Köser-Rudolph (Städtisches Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen)
In: Heiko Wommelsdorf – Atelier, Städtisches Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen, Kehrer Verlag, Heidelberg 2016